Weltraum

Allen Erwartungen zum Trotz

Der europäische Satellit ENVISAT verlor 2012 den Kontakt zur Erde. Seither dreht er sich auf einer beliebten Umlaufbahn – mit abnehmender Drehgeschwindigkeit, wie die Wissenschaftsgemeinde annahm. Doch Messungen des Fraunhofer FHR zeigen: Seit 2018 dreht er sich wieder schneller und schneller.

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ISAR-Radarbild vom Satelliten Envisat.
© ESA
Künstlerische Darstellung des Umweltsatelliten ENVISAT.
© Fraunhofer FHR
Zeitlicher Verlauf der Rotationsperiode des Satelliten: Seit 2018 dreht er sich wieder schneller.

Wie verändern sich Klima, Ozeane und Landflächen, genauer gesagt das Ökosystem der Erde? Dies sollte der europäische Satellit ENVISAT überwachen, der 2002 von der ESA in den Weltraum befördert wurde. Mit Gesamtkosten von 2,3 Milliarden Euro war er der bisher teuerste Satellit der ESA und der größte Erdbeobachtungssatellit, der jemals in den Orbit verfrachtet wurde. Über zehn Jahre verrichtete er seinen Dienst wie gewünscht, doch 2012 brach der Kontakt ab. Seither schwirrt ENVISAT unkontrolliert als Müll durch den Weltraum. Was zum Verbindungsverlust führte, ist nach wie vor ungeklärt. Anschließende Untersuchungen ergaben jedoch einen interessanten Umstand: Der Satellit fing an sich zu drehen, und zwar immer schneller. 2013 nahm die Rotationsgeschwindigkeit jedoch wieder ab. Die Experten waren sich einig, dass sich dieser Trend auch in Zukunft fortsetzen würde.

Mit ENVISAT hat die ESA nicht nur einen teuren Satelliten verloren, sondern auch eines der statistisch gefährlichsten Trümmerteile geschaffen: Während die ersten 20 Plätze der Rangliste von Raketen belegt werden, steht der etwa acht Tonnen schwere ENVISAT mit Platz 21 bei den Satelliten ganz oben. Umso schwieriger, da er seine Kreise aktuell in einer Höhe von 765 Kilometer Höhe zieht – in einem sonnensynchronen Orbit, in dem sich äußerst viele Satelliten tummeln. Um ENVISAT jedoch mit einem anderen Satelliten greifen und aus dem Weg räumen zu können, muss seine Drehgeschwindigkeit genau bekannt sein.


Die Vorhersagen treffen nicht zu!


Doch – das haben Forscherinnen und Forscher des Fraunhofer FHR 2019 bei sporadischen Messungen entdeckt: Die Vorhersagen zur stetig weiter abnehmenden Drehgeschwindigkeit treffen nicht zu.

Messkampagnen in den Jahren 2020 und 2021 bestätigten das überraschende Ergebnis: Die Rotation wird tatsächlich wieder schneller. Anfang 2013 drehte sich der Satellit am schnellsten, mit ungefähr drei Grad pro Sekunde. Der Satellit brauchte also 120 Sekunden für eine Umdrehung. 2018 drehte er sich nur noch mit halber Geschwindigkeit, während einer Drehung verstrichen ganze 240 Sekunden. In der ersten Jahreshälfte 2021 schaffte er diese jedoch in nur 210 Sekunden – ein deutlicher Unterschied. Seitdem wird der Satellit stetig schneller.

Für die Untersuchungen nutzten die Forschenden das Radarsystem TIRA. Taucht der Satellit am Horizont auf und fliegt am Himmel über die Erde hinweg, verfolgt das L-Band Zielverfolgungsradar ihn, bis er nach zehn bis 15 Minuten wieder von der Bildfläche verschwindet. Während der Verfolgung werden mit dem Ku-Band Radar Daten für die Bildgebung gewonnen. Mit den erhobenen Daten erstellten die Forschenden ISAR-Bilder, kurz für »Inverse Synthetic Aperture Radar«. Dabei erzeugen zwei physikalische Größen eine Bildebene: Zum einen die Laufzeit der ausgesendeten Radarpulse, zum anderen die Dopplerverschiebung, die das Objekt durch seine Eigendrehung auslöst. Um die Bilder korrekt zu skalieren – und die Rotationsgeschwindigkeit über einen längeren Zeitraum berechnen zu können – machen sich die Forschenden zunutze, dass sie Geometrie und Größe des Satelliten kennen. Indem sie einzelne Punkte dieses 3D-Modells Punkten in den ISAR-Bildern zuordnen, können sie die Eigendrehung des Satelliten berechnen – und darüber wiederum die gemessenen Dopplerfrequenzen in eine Länge umrechnen. Anders gesagt: Sie projizieren das 3D-Modell auf die ISAR-Bilder und erhalten dadurch korrekt skalierte Bilder.


Doch woran lag es, dass ENVISAT den Kontakt zur Erde verlor und anfing sich zu drehen?


Diese Frage lässt sich bislang (noch) nicht beantworten. Üblicherweise werden Satelliten mit Schwungrädern stabilisiert. Könnte die Energie dieser Schwungräder, so eine Überlegung, sich durch Reibungseffekte auf den Satelliten übertragen haben? Eher nein, denn dies würde die hohe Drehgeschwindigkeit nicht erklären. Ebenfalls ist unklar, warum sich die Drehung wieder verlangsamte. Vielleicht lässt sich dies auf Kriechströme zurückführen, die vom Erdmagnetfeld im Satelliten induziert wurden? Auch könnte die Gravitation der Erde die Drehachse des Satelliten beeinflussen. Eine weitere Möglichkeit liegt im Yarkovsky-O‘Keefe-Radzievskii-Paddack-Effekt. Dieser bezieht sich ursprünglich auf Asteroiden – deren Dreheigenschaften werden durch die thermische Strahlung der Sonne geändert.

Die Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer FHR haben nun versucht, der Ursache für die erneute Zunahme der Drehgeschwindigkeit auf die Spur zu kommen: Sie untersuchten, ob sich ein Zusammenhang mit Sonnenaktivitäten seit 2018 finden lässt, etwa mit Eruptionen auf der Sonnenoberfläche. Doch auch hier konnte keine Ursache gefunden werden. Sicher ist jedoch: Der Satellit dreht sich wieder schneller – der Ursache ist man noch auf der Spur.